Montag, 30. Mai 2016

"Haben Sie ein Problem damit, dass ich stottere?"

Ich klopfte. „Entschuldigen Sie? Entschuldigung. Ich h---“
„Ist schon in Ordnung! Wir haben uns sowieso noch besprochen. Würden Sie noch einen Moment warten?“
„Sicher. Danke.“ Ich lief zurück auf den Flur, setzte mich mit bebenden Knien auf einen der Stühle unter das mit Zetteln überfüllte,schwarze Brett und knibbelte am Verschluss meiner Tasche, die miralle paar Sekunden vom Schoß zu rutschen drohte. Ich stellte sie ab. Das Geräusch eines klirrenden Schlüsselbundes klang den riesigen Flur hinunter und schon lief eine Frau mit Brille und streng gebundenem Haar den nächsten Flur entlang, der quer zu dem lag, indem ich saß und meine Beine zitterten. Mir wird kalt, wenn ich nervös bin. Erst jetzt bemerkte ich ein paar andere junge Leute, die - so vermute ich - aus dem gleichen Grund wie ich hier warteten. Sie starrten auf die Klemmbretter und Plakate gegenüber der tristen Stuhlreihe. Ich glaube aber, sie lesen gar nicht, was dort steht. Sie zermartern sich die Köpfe darüber, was ihnen bald bevorsteht - so wie mir.

„Frau Menzel? Bitte.“
„Danke.“

Ich nahm meine schwere Tasche vom Boden - sie wog in dem Moment doppelt so viel wie sonst - und schlurfte in den riesigen Besprechungsraum. Im Rücken merkte ich die neugierigen Blicke der anderen Wartenden. Oh Himmel. Kurz stand ich still. Neben dem, das mich eben zwinkerthineingebeten hatte, stierten sechs weitere Augenpaare in meine Richtung. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden lang ich so dastand, aber lang genug, dass die Augenpaare sich von meinen lösten und abwechselnd zu mir und dem leeren Stuhl am Kopfende des riesigen Tisches sahen. Nach kurzer Benommenheit steuerte ich auf die zweiletzten freien Stühle zu. Der mit dem vollen Wasserglas auf dem Platz müsste meiner sein.
„Frau Menzel.“ Der Raum war so groß, dass die Worte wiederhallten.
„Ja?“
Bohrende Blicke. Ab und zu lächelte jemand. Die Frau, die am weitesten weg von mir saß, eine dünne, etwas ältere Dame mit gekräuselten blond-grauen Haaren und einer bunten Kette aus Filzbommeln, grinsteganz besonders breit und klackerte mit ihren langen Nägeln auf demTisch.
„Wir möchten Sie in unserer Runde herzlich willkommen heißen und freuen uns, dass sie Interesse an der freien Stelle haben.“
„Danke! Ich — danke für Ihre Einladung.“ Mist!

„Wir werden uns jetzt der Reihe nach vorstellen und würden uns freuen, wenn Sie danach auch etwas über sich erzählen.“
Ich wusste nichts zu sagen, war wie gelähmt. Kurz wollte ich ansetzen, etwas zu erwidern wie ‚Alles klar‘, ‚Ist gut‘ oder ‚Na dann mal los‘. Aber das schien mir in einer Runde wie dieser irgendwie nicht angemessen genug. Und da ist es schon. Das Gefühl das kleinste Lichtunter der Horde hochherrschaftlichen Leuten zu sein. Unpassend. Aber so ist es leider.
Die Reihe stellte sich vor, Namen, Aufgaben, Abteilungsstandort. Ich hörte kaum zu. Es war, als hätte sich mein Kopf nach innen gekrempelt und die Umgebung außerhalb meiner Gedanken völlig ausgeblendet. Ich wusste aber, dass ich jeden einzelnen ansah, hinund wieder lächelte, aber nichts zu ihrer Rede kommentierte. Das wäre sicher auch nicht höflich gewesen. Was hätte ich auch sagen sollen.

Nun begann die junge Frau zu meiner Rechten zu sprechen. Ich hatte alle anderen Namen bereits vergessen und nachdem sie geendet hatte, auch ihren. Nun war ich dran.
Also. Was hatte ich gelernt. Fang bloß nicht beim Urschleim an. Niemanden interessiert, wo Du eingeschult wurdest und welche Instrumente Du spielen kannst.
„Ich bin damals, das war zweitausendelf, für eine Ausbildung nach Berlin gekommen. Als Fr--“
Stirnrunzeln. Eine kurze Pause. Eine legte den Kopf zur Seite. Ich knete meinen linken Daumen unter der Tischkante.
„Als Fremdsprachensekretärin.“
„Welche Sprachen können Sie?“ Als hätte niemand etwas bemerkt.
„Englisch--- und f--“
„Französisch?“
„Ja genau.“ Papiergeraschel. Ein paar notierten sich etwas auf den Bögen, die jeder vor sich hatte. Das Kratzen der Bleistifte auf den dünnen Blättern stach mir in den Ohren und jemand räusperte sich; ich runzelte die Stirn sah auf meine Hände. Mehr Konzentration.
„Nach meinem Abschluss im letzten Juni bin ich für dreizehn Wochen nach London gegangen und habe dort in einer Kanzlei im Stadtteil Westminster gearbeitet.“
Es geht doch.
„Das klingt gut! Sehr gut. Welche Aufgaben hatten Sie dort?“
„Ich war hauptsächlich mit schriftlichen Aufgaben beschäftigt. Mit Unterlagen der Anwälte und Botengänge und solche --- und sowas.“
Es geht doch nicht. Von da an blockierte die Sprache vollends. Jemand nutzte die zwangsläufige Pause und hakte noch bezüglich meiner Ausbildung nach; welche Fächer ich hatte, wie ich mich selbst einschätzte und diese ganzen Sachen, die wohl bei jedem Vorstellungsgespräch gefragt werden.

Auch die Fangfrage musste zwangsläufig irgendwann kommen: „Was würden Sie tun, wenn ich Sie bitten würde, mich in der nächsten Stunde nicht zu stören, weil ich in einer wichtigen Besprechung bin - und jemand riefe an und würde mich sehr dringend sprechen wollen?“
Und da haben wir es schon. Zwei Dinge, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann: Telefonieren und stören. Diese Frage hat mich so aus der Bahn geworfen, dass ich gar nicht mehr genau weiß, was ich eigentlich geantwortet hatte. Ich glaube, ich hätte einen unkomplizierten Mittelweg finden wollen. Aber vor allem wollte ich mit solchen Unannehmlichkeiten erst gar nichts zu tun haben. Ich wollte mit niemandem telefonieren. Und niemanden stören. Und mit niemandem sprechen. Nicht sprechen. Warum bin ich eigentlich hier?

Ich merkte, wie sich dieses Gespräch über mich, meinen holprigen Werdegang und dem Worst Case-Szenario dem Ende näherte und derjenige, der mich zu Anfang hineinbat, erkundigte sich nach etwaigen Fragen.
Was hatte ich gelernt… Fragen stellen macht einen guten Eindruck.
„Ja. Ich würde gerne noch etwas wissen. Arbeitet man hier an der Universität in Gleitzeiten oder gibt es festgelegte Arbeitszeiten?“ Der Satz klappte tatsächlich erstaunlich gut. Und doch wich ich meiner eigentlichen Frage aus. Die Luft schien zu brennen, denn jeder- und ich meine wirklich jeden, denn die Leute hier sind sicherlich nicht taub - hätte eine andere Frage vermutet. Der Mann zu meiner linken erklärte mir die Arbeitszeiten, wie ich es erfragt hatte. Als er geendet hatte, sah er mich an. „Noch eine Frage?“
„Ja.“
Ich ließ meinen Daumen nun los, sodass das Blut unter meinem Nagelwieder in die Gefäße schoss. Mein Herz schlug mir bis unter die Schädeldecke und mir war unheimlich kalt. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich die Menschen in der Runde gar nicht ansah und ich hob meinen Blick, um die der mir gegenübersitzenden ja nicht zu verpassen.

„Haben Sie ein Problem damit, dass ich stottere?“

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