Donnerstag, 23. Juni 2016

Alltagsfädelei

Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der ich einmal wöchentlich in die (furchteinflößende,) hiesige HNO-Klinik musste. Meine Mutter war jedes Mal bei mir. Diese Klinik habe ich als eine einzige große Halle mit kleinen abzweigenden Zimmern in Erinnerung - so grob und wuchtig, wie sich eine Fünfjährige eine Klinik womöglich vorstellt. Wenn ich heute an dem Gebäude vorbeifahre, denke ich an kalte, kühle Kacheln und an  schwere, dunkle Holztüren. Ich war lange nicht dort drin.

Wir mussten durch die kleine Sparte bis ganz hinter in eine abzweigende Abteilung, über eine Treppe, und wenn ich mich recht erinnere, an Fenstern vorbei, vor denen Gitter waren. Und dann, wie als würde man von der einen Sekunde zur nächsten in ein völlig neues Gebäude eintreten, geriet man plötzlich in helle Räumlichkeiten. Durch Fenster konnte man draußen Sonne, Regen und Schnee beobachten und wenn ich zurückdenke, habe ich erst sehr viel später so richtig gerafft, wieso ich überhaupt dort war.
Eine freundliche Frau, die Frau E., bat mich und meine Mutter in ein separates Zimmer. Mama nahm immer auf einem Stuhl in der Ecke Platz. Sie sah zu. Manchmal sagte sie etwas. Ich weiß aber nicht mehr, was.
Ich durfte Bilder ausmalen, jede Woche eines, auf dem Abschnitte von einer Geschichte waren. Am Ende haben wir die Blätter zusammengeheftet und ich durfte mein selbstbemaltes Geschichtenbuch mit heim nehmen. Es ging um einen Bären und Beeren. Mehr blieb nicht hängen.

Es gab ein Puppenhaus - ich liebte Puppenhäuser; mein Vater hat mal selbst eins gebaut, so richtig mit Licht - und Frau E. bat mich,mit ihr in diesem Haus zu spielen. Ich sollte möglichst viel sprechen.
Schüchtern wie ich war, wollte mir keine gescheite Geschichte einfallen und mir fiel es sehr schwer, mich in dieses Spiel einzufuchsen. Vermutlich hätte ich besser mit diesem Puppenhäuschen spielen können, wenn ich völlig allein gewesen wäre.
Jedes Mal, als wir zum Ende der Stunde in der Tür standen um zu gehen, sagte mir Frau E., wir würden uns dann nächste Woche sehen. Ich habe mir als Kind darüber keine Gedanken gemacht - wieso auch. Es gehörte eben dazu. Die Praxisbesuche haben sich unbemerkt in meinen kindlichen Alltag eingefädelt.


Ein kleiner Zeitensprung. Neun Jahre später. Wieder laufe ich mit meiner Mutter durch die Klinik, über die Treppe, an den Gitterfenstern vorbei, in die wohl hellste Ecke des Gebäudes. Es sieht alles noch viel kleiner aus als früher. Aber gleichbleibend bekannt.

„Elisa!“
Es ist die erste Stunde nach einer sehr langen Unterbrechung.
„Schön, dass Du hier bist.“
„Danke, freut mich auch!“
„Geht es Dir gut?“
„Es geht, danke.“ Ich sah auf meine Hände und klemmte meinen Daumen in den Rest der Finger meiner linken Hand. „Morgen muss ich etwas vortragen. Ein G---.“ Da stockte es wieder. Ich dachte an den bevorstehenden Vortrag und in meinem Kopf formte sich das Bild, wie ich vor versammelter
Klasse stehe, die allesamt nicht richtig verstehen, warum ich so bin, wie ich bin.
„Was wird morgen sein?“ Ich sah sie an. Sie hatte ein Blatt Papier zurechtgeschoben und hob ihren Kugelschreiber nun langsam, um losschreiben zu können.
„Ein G—.“ Nichts. Ich sah auch schon gar nicht mehr in ihre Richtung, sondern wieder hinab zu meinen sich selbst knetenden Fäusten. Unter meinen Ohren spürte ich eine unheimliche Spannung, die fast wehtat. Meine Zähne waren so stark aufeinander gepresst, dass sich mein Kiefer völlig verkrampfte.
„Ein G— … Ein … Gedicht“, schloss ich endlich.
„Oh!“ Sie hob die Augenbrauen. „Das ist doch super!“
„Ja, super.“ Ich konnte nicht glauben, was sie daran so super finden konnte. Fast stieg die Wut in mir hoch.
„Hast Du gut geübt?“ Sie schielte zu meiner Mutter hinüber und ihr Mund kräuselte sich zu einem leichten Lächeln. Ich sah zu Mama, die nickte.
„Habe ich. Ich kann es auswendig. Aber was bringt es mir?“, sagt mein ausgelaugtes, pessimistisches Ich.
„Und wenn Du versuchst, dich darauf zu konzentrieren? Wenn Du probierst, Deine Umgebung für die paar Minuten abzuschalten. Probiere Deine Technik.“
Sie gab mir ein paar Sätze vor, die ich in verschiedensten Variationen nachsagen sollte. Halb gesungen, mit Pausen, … Ich plapperte alles nach. Das war nicht so schlimm.

Diese Zeit, als Jugendliche in der Therapie, erschien mir sehr kurz. Wenn mich heute jemand fragen würde, wie oft ich in dem Alter bei Frau E. war, würde ich mit vollster Überzeugung sagen ‚Einmal. Allerhöchstens zweimal.‘
Grund war eine Aussage ihrerseits, die mich verängstigt und erschüttert hat und von der ich jeder und jedem guten Logopädin bzw. Logopäden abraten würde.
Sie beugte sich über ihren Tisch zu mir und sagte: „Elisa, ich habe etwas mit dir vor.“ Das war nie ein gutes Zeichen. "Wir gehen beim nächsten Mal ein bisschen nach draußen, ja? Das ist eine gute Gelegenheit, ein paar Passanten nach der Uhrzeit zu fragen.“

Das war meine letzte Stunde bei ihr.